Die Nachricht ihrer Freundin war sehr verwirrend oder vielmehr ungewöhnlich. Maria kannte Shae zwar erst seit ungefähr zwei Jahren und wusste, wie ihre Umgangsformen waren. Vom ersten Moment waren sie auf einer Wellenlänge, auch wenn sie ziemlich unterschiedliche Leben führten, aber sie besaßen beide wenig gute Freunde, denen sie vertrauten und allein durch Marias Job bezogen sich ihre Beziehungen eher auf viele unterschiedliche Kontakte, denen man sich aber nicht unbedingt intimer werdend öffnen musste. Sie sprach ungern über ihre Vergangenheit oder den Grund, wie sie es schaffte, sich in New York so ein TOLLES Apartment zu leisten. Deshalb investierte sie ihre Zeit in ihren Job und verdiente Geld, das sie sich schön auf die Seite legte, falls sie eines Tages wieder flüchten wollte. Mittlerweile pflegte sie auch wieder regelmäßigen Kontakt zu ihren Eltern und erhielt auch dadurch die Information, dass ihr jüngster Bruder bald an der Harvard University studierte, wodurch er sogar näher bei ihr wäre, als in Chicago. Innerlich war sie unglaublich erleichtert, denn der älteste Bruder war noch immer im Sumpf der Bandenkriminalität verstrickt, aber wenigstens konnte sich ihr dritter etwas davon lösen und arbeitete irgendwo außerhalb von Chicago tatsächlich auf einer Farm. Sie ahnte, dass sie ihren ältesten Bruder eines Tages an die Straße verlor, wie es schon einer tat und bereits seit vielen Jahren unter der Erde auf dem Friedhof lag. Es hätte damals der Beweis für die anderen beiden älteren Brüder sein sollen, aber sie waren von Rachegefühlen durchfressen und was wollte da eine jüngere Schwester mit ihren 14 Jahren schon ausrichten?
Auf jeden Fall tat ihr der Kontakt gut zu ihren Eltern, denn sie sagten ihr auch, dass Tonio, sie sehr vermisste und womöglich deshalb so ehrgeizig seinen Weg nach Harvard ebnete, denn O-Ton hatte er einst verlauten lassen, dass auch er so erfolgreich wie seine Schwester sein wollte. Ihre Familie wusste nicht, welchen Beruf sie ausübte und sich derzeit unglücklich durch die Strip Clubs hangelte, denn seit der Finanzkrise hatte sich vieles verändert. Sie gab immer mehr privaten Tanzunterricht in einer konventionellen Schule und sah das alles eher als Übergangslösung an. Sie vermisste vielmehr das unkonventionelle Arbeiten an der - an ihrer! - Stange und dem Gefühl des Geldes, das unter dem Bund ihres Strings steckte. Noch war sie derzeit einfach zu gefangen in einem Ablauf, in dem sie sich nicht sonderlich wohl fühlte und war umso erfreuter, als ihre gute Freundin, falsch, denn es war ihre BESTE Freundin, zu Besuch nach NYC kam! Die ersten Tage waren wirklich toll! Sie zogen um die Häuser, zuvor mittags shoppen, dann auf einen Absacker in eine Bar, wo es meist nicht bei einer blieb! Dass ihre liebste Freundin ein klitzekleines Problem mit Alkohol hatte, war Maria schon etwas länger aufgefallen, aber sie ignorierte es oder wollte es einfach nicht wahrhaben. Es machte ihr Spaß so ausgelassen am Tisch oder einem Tresen zu scherzen, fremde Männer abblitzen zu lassen, nur um von ihnen der Gunst zuliebe etwas spendiert zu bekommen. Man wäre erstaunt, wie jung manche waren und das schmeichelte den Frauen natürlich ungemein!
Maria drückte die Türe zu ihrer Lieblingsbar auf, eine unglaublich gemütliche Sitzecke hatte es ihr darin angetan und diese reservierte sie immer, wenn sie sich dorthin bequemte. Ihre Augen gingen unwillkürlich in das favorisierte Eck, wo bereits für zwei Personen eingedeckt schien und sogleich wurde sie vom Barkeeper gegrüßt, der ihr mit einem Nicken bestätigend entgegnete, dass es ihr Tisch war, nachdem sie mit dem Finger in diese Richtung zeigte. Mit gemäßigten Schritten ging sie also vorbei an den anderen Gästen und setzte sich hin. Erst nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, warf sie einen Blick auf ihr Handy und auf die Uhrzeit. Sie selbst war etwas zu spät und sorgte sich um Shae, denn sie hatte gehofft, dass sie ihr wenigstens antwortete, aber seit einigen Stunden kam keinen Mucks mehr von ihrer Freundin. Sie las die Nachricht vom 28. Oktober durch und konnte sich keinen richtigen Reim darauf machen, was Schreckliches passiert war. Natürlich war Maria extrem nervös und auch angespannt! Gerade die spärlichen Antworten und ein kurzes Telefonat, das nur aus Schluchzen bestand, machte sie nicht sonderlich klüger. Zuerst dachte sie, es wäre ihrem Ehemann widerfahren, aber anscheinend lag mit dem Sohn etwas im argen. Nun blieb einfach zu hoffen, dass Shae ihr Treffen wahrnahm und jeden Moment zur Tür herein kam.