"Meine Fresse, Joseph, hörst du dich eigentlich selbst reden? Ich hab dein Gelaber so satt!" Aufgebracht und wütend zeigte Leif seinem älteren Bruder den Vogel, tippte sich mit dem Finger energisch an die Stirn, dass es schon weh tat. Wie oft eigentlich noch? Seit ihrer Kindheit oder vielmehr seit @Easton Bolder auf der Welt war, meinte Joseph ihn herumkommandieren zu können und ihm sagen, was er zu tun hatte! Sie waren keine 10 Jahre mehr und Mama sagte schon lange nicht mehr zu seinem älteren Bruder, dass er auf ihn achten sollte! Das war einmal! Jetzt war Leif erwachsen und wollte auch als solcher behandelt werden! Joseph hatte von damals nichts gelernt! Aber auch rein gar nichts! Wegen ihm verschwand Leif ja erst, weil er das Klugscheißergeschwafel nicht mehr hören konnte, denn schon damals wusste Joseph immer alles besser, dieser fürsorgliche Daddys Liebling! Überhaupt war alles anders, seit die jüngeren Geschwister in die Familie hineingeboren wurden, stimmt nicht mit dem anders! Alles wurde schlechter! Ihre verschollene Schwester ruinierte dann am Ende die ganze Familie bis heute!
Klar war es bestimmt nicht einfach für ihre Eltern, als ein drittes Kind im Bauch ihrer Mutter heranwuchs, doch sie wollten es doch so? Joseph war der Erstgeborene und hatte schon immer einen sehr guten Draht zum Vater, gerade auch, weil ihr verstorbener Onkel nicht nur der Namensgeber war, sondern auch immense Ähnlichkeit bestand. Leif hatte dieser Verbindung früher kaum Beachtung geschenkt, denn er hielt sich viel bei seiner Mutter auf, halb den Großeltern und das als kleiner Junge, der sich dort sehr geborgen fühlte. Doch dann wurde irgendwie alles anders, als Easton - der kleine Schreihals - zugegen war. Die Mutter sagte oft zu Joseph, dass er auf seinen Bruder - also Leif - acht geben sollte und trug ihnen gemeinsam bestimmte Aufgaben auf oder sie fuhren bei ihrem Vater auf den verschiedenen, großen Landschaftsmaschinen mit, halfen bei der Ernte. Ab diesem Zeitpunkt begann sich das Leben von Leif zu stetig zu verändern, denn er fühlte sich zunehmend ausgeschlossen oder kontrolliert, denn sein Bruder nahm die Verantwortung sehr ernst. Irgendwie hatte sich das zwischen ihnen eingebürgert und noch mehr, als Leif mit 11 Jahren vom Heustock fiel, sein Schlüsselbein brach und sogar ins Krankenhaus zum operieren musste. Wahrscheinlich plagte Joseph ein Schuldgefühl, dass ausgerechnet demjenigen etwas Schlimmes geschah, für dessen Wohl er sorgen sollte? Heute war nur noch eine lange Narbe stummer Zeuge dieses Unfalls und dennoch fühlte sich Leif teils in diese Zeit zurück versetzt, denn er war schon lange kein Kind mehr!
"Warum kümmerst du dich nicht um deinen Scheiß, hm?! Ich weiß, was ich hier zu tun habe und stell dir vor: Ich weiß auch, WANN ich was zu tun habe! Ich brauch deine Kommandos nicht und geb einen Dreck auf deine Meinung!" Manchmal wusste Leif einfach nicht, wie verletzend seine Worte sein konnten, aber wenn er wütend war, dann dachte er oft nicht nach und teilte in alle Richtungen aus, ohne Vorwarnung und erst recht ohne Rücksicht. Er war wütend, denn er mochte nicht, wenn Joseph in den Stall kam und ihm Druck machte, welche Arbeiten noch anstanden! Er wusste, dass Easton bei irgendwas Hilfe benötigte, aber das hatte noch Zeit. Er hatte seinem jüngeren Bruder vorhin nur mit einem Ohr zugehört und war mit den Gedanken wo ganz anders, nämlich bei seinem heiß geliebten Apfelschimmel, ein Andalusier. Dieser Wallach war charakterlich - dies tuschelten einige Farmhelfer untereinander - wie Leif selbst und ließ sich ausschließlich von ihm reiten, jeden anderen warf er ab. Leider schien das Tier momentan etwas zu kränkeln und das, obwohl er noch sehr jung war. Die Verbindung zwischen dem Wallach und Leif war vom ersten Tag an außergewöhnlich, so als wären sie füreinander geschaffen worden. Schon immer mochte er Pferde, sie waren elegant, stark und seltsamerweise vermochte er eine Feinfühligkeit an den Tag legen, die er nur noch selten zeigte. Höchstens bei seinen Großeltern und selbst dann war es noch ein himmelweiter Unterschied zu seinen Lieblingstieren.
"War's das jetzt?" In einem etwas versöhnlicheren Ton fragte er Joseph und setzte das Striegeln fort, wobei nun ein leises Wiehern zu vernehmen war. Zum Glück schien es dem Wallach besser zu gehen und die Medikamente des Veterinärs schlugen zum Glück an, womit die Bronchitis langsam, aber sicher der Garaus gemacht wurde. Für ihn waren die vergangenen Tage eine Tortur, denn er fürchtete bereits Schlimmeres, aber nun gab es für ihn vorerst keine langen Ausritte mehr und musste mit dem Pferd geduldig spazieren gehen. Diese Zeit war ihm momentan wichtiger, als seine zeternden Brüder!